Entscheidungstheorie am Beispiel der Fußball-WM

Warum Manuel Neuer mitstürmte

Dr. Peter Hoberg
Die deutsche Fußballnationalmannschaft verlor ihr Auftaktspiel am 17. Juni 2018 bei der Fußball-WM in Russland gegen Mexiko. Ab der 35. Minute lief die Mannschaft einem Rückstand hinterher. In der Schlussphase konnten die erstaunten Zuschauer sehen, wie der deutsche Torwart Manuel Neuer zum gegnerischen Strafraum lief, um mitzustürmen. Und viele haben intuitiv verstanden. Wenn er das gleiche Verhalten in der Anfangsphase gezeigt hätte, hätte man ihn dagegen für verrückt erklärt.

Es soll somit dargestellt werden, warum der Versuch in der Schlussphase vernünftig war. Solche Entscheidungen unter Unsicherheit können gut mit dem Grundmodell der Entscheidungstheorie analysiert werden. Der Grundgedanke besteht darin, dass nur bestimmte Szenarien betrachtet werden. In der sogenannten Risikosituation geht man davon aus, dass dafür Eintrittswahrscheinlichkeiten angegeben werden können. In diesem speziellen Fall sind die Wahrscheinlichkeiten unterschiedlich je nach gewählter Handlungsmöglichkeit. Es handelt sich somit um individuelle Szenarien.

Im konkreten Fall sind vor allen Dingen 3 Szenarien relevant:
  • Keiner Mannschaft gelingt ein Tor
  • Mexiko schießt ein Tor
  • Deutschland schießt ein Tor

Sicherlich könnten noch weitere Szenarien betrachtet werden, z. B., dass eine Mannschaft mehrere Tore erzielt oder dass beide Mannschaften noch treffen. Aber das ist in der Schlussphase nicht sehr wahrscheinlich. Trotzdem muss man sich klar machen, dass nicht alle möglichen Szenarien erfasst sind. Einfacher ist das bei den Handlungsmöglichkeiten.

Hier gibt es nur 2 Varianten:
  • Der Torwart bleibt im Tor
  • Der Torwart stürmt mit

In anderen Sportarten wie z. B. dem Eishockey ist es nicht selten, dass in der Schlussphase auf den Torwart verzichtet wird, um in den letzten Sekunden doch noch ein Tor zu erzielen. Für jede Kombination von Handlungsmöglichkeit und Szenario wird ermittelt:
  1. Wie hoch ist der Nutzen, wenn das Szenario eintritt und
  2. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für das jeweilige Szenario


Dabei ist wichtig, dass alle Daten aus der deutschen Perspektive in der Schlussphase abgeleitet werden. Man wollte die Niederlage abwenden. Die Niederlage war aber das Ausgangsszenario. Demgegenüber muss eine Verbesserung versucht werden. Wenn dann kein Tor mehr fällt, hat es keine Verbesserung gegeben. Der zusätzliche Nutzen beträgt somit 0. Wenn hingegen Mexiko ein weiteres Tor erzielt, ändert das nicht viel an der Niederlage, so dass der Zusatznutzen sehr gering ist. Im Beispiel ist er mit -1 angenommen, wobei natürlich viele andere Werte eingesetzt werden können.

Gut ist nur das Szenario, in dem Deutschland doch noch ein Tor erzielt und somit in letzter Minute noch einen Punkt gewinnt. Hier ist ein Zusatznutzen von 100 angenommen. Dazu sind die Wahrscheinlichkeiten für den Fall angegeben, dass der Torwart in seinem Tor bleibt. Die Summe der Wahrscheinlichkeiten muss natürlich 100% betragen. Auch für die Wahrscheinlichkeiten können natürlich andere Werte angenommen werden, die aber i. D. R. zu keiner anderen Entscheidung führen.

Mit diesen Daten ergibt sich die folgende Abbildung:

  Szenarien
  Kein Tor Tor für Mexiko Tor für Deutschland Saldo
HM1: Neuer bleibt im Tor
     
Zusätzlicher Nutzen 0 -1 100  
Wahrscheinlichkeit 89 % 1 % 10 %  
Erwartungswerte 0,00 -0,01 10,00 9,99
HM2: Neuer stürmt mit        
Zusätzlicher Nutzen 0 -1 100  
Wahrscheinlichkeit 40 % 40 % 20 %  
Erwartungswerte 0,00 0,40 20,00 19,60

Abb. 1: Schlussphase des Spiels: Zusätzlicher Nutzen der Handlungsmöglichkeiten

Der Einfluss der jeweiligen Handlungsmöglichkeit zeigt sich darin, dass sich die individuelle Wahrscheinlichkeit je Szenario ändert, wenn der Torwart mitstürmt. Aus deutscher Sicht steigt natürlich insb. die Wahrscheinlichkeit für ein weiteres mexikanisches Tor, weil bei einem deutschen Ballverlust das Tor verwaist ist. Ein Fernschuss hätte gereicht. Aber diese Verschlechterung ist nicht so schlimm.

Dagegen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass durch den Einsatz von Manuel Neuer am gegnerischen Strafraum ein Tor fällt, auch weil der Gegner mit dieser Situation nicht gerechnet hat. Deutschland hatte dadurch einen Feldspieler mehr. Da ein Unentschieden einen wesentlichen Nutzengewinn gebracht hätte, ist auch der Gesamtnutzen als gewogenes Mittel der Teilnutzen deutlich höher.

Auch wenn die Zahlen eher willkürlich gewählt wurden, bleibt das Ergebnis für fast alle Kombinationen gleich: Manuel Neuer hat richtig gehandelt.

Update nach den Spielen der deutschen Nationalmannschaft

Leider waren alle drei Spiele der deutschen Nationalmannschaft sehr knapp. Nachdem gegen Mexiko das Szenario 1 wie oben beschrieben eingetreten ist, trat Szenario 3 (Tor in der letzten Minute) gegen Schweden ein, was die Hoffnung wiederbelebte. Gegen Südkorea materialisierte sich hingegen das hohe Risiko des leeren Tores (Szenario 2).

Aber es war trotzdem richtig, mit Mann und Maus zu stürmen, denn eine Niederlage mit nur einem Tor hätte das Gesamtergebnis des Ausscheidens auch nicht verhindert. Es ist somit bemerkenswert, dass die deutsche Nationalmannschaft in nur drei Spielen gleich alle drei Szenarien erlebt hat.

Aus entscheidungstheoretischer Sicht ein voller Erfolg




letzte Änderung P.D.P.H. am 01.06.2025
Autor:  Dr. Peter Hoberg
Bild:  panthermedia.net / Sebastian Duda


Autor:in
Herr Prof. Dr. Peter Hoberg
Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Worms. Seine Lehrschwerpunkte sind Kosten- und Leistungsrechnung, Investitionsrechnung, Entscheidungstheorie, Produktions- und Kostentheorie und Controlling. Prof. Hoberg schreibt auf Controlling-Portal.de regelmäßig Fachartikel, vor allem zu Kosten- und Leistungsrechnung sowie zu Investitionsrechnung.
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