Stille Reserven bzw. Rücklagen

Jörgen Erichsen
Stille Rücklagen - auch stille Reserven, Bewertungsreserven oder unsichtbares Kapital -, heißen so, weil sie in der Bilanz zumindest vorübergehend nicht auftauchen bzw. nicht ausgewiesen werden. Es ist also zumindest für externe Betrachter nicht ersichtlich, dass es sie gibt. Stille Reserven entstehen im Kern, wenn Vermögensgegenstände unterbewertet oder Schulden überbewertet werden. Sie führen dazu, dass ein Unternehmen über mehr Eigenkapital verfügt als aus der Bilanz zu erkennen ist.

Beispiel für stille Reserven

Es gibt zahlreiche Sachverhalte und Geschäftsfälle, die zu stillen Reserven führen können. Beispielsweise behalten viele geringwertige Wirtschaftsgüter (GWG), wenn sie in voller Höhe sofort als Aufwand verbucht werden, ihren Wert und könnten künftig mit Gewinn veräußert werden. 

Bei Anlagegütern tritt zudem häufig der Fall auf, dass sie nach Ablauf der Nutzungsdauer mit einem Erinnerungswert von 1 Euro bilanziert werden. In der Praxis kommt es dann oft vor, dass der tatsächliche (Verkaufs-)Wert höher liegt, wenn man sich im Betrieb dazu entschließen würde, den Anlagegegenstand zu verkaufen. Wird z.B. die Nutzungsdauer eines Anlagegutes kürzer angesetzt als die tatsächliche Nutzungsdauer, werden die Anschaffungskosten auf diesen kürzeren Zeitraum bezogen und es entstehen stille Reserven.

Kauft ein Unternehmen zum Beispiel ein Firmenfahrzeug zu einem Kaufpreis von 36.000 Euro und schreibt es über 6 Jahre Nutzungsdauer (nach AfA-Tabelle) ab, entstehen Abschreibungen in Höhe von 6.000 Euro pro Jahr. Das Fahrzeug wird aber weiter genutzt und nach Ablauf der Nutzungsdauer mit einem Erinnerungswert von einem Euro in der Bilanz geführt. Am Ende der gesetzlichen Nutzungsdauer hat das Fahrzeug nach einem Gutachten noch einen Wert 7.000 Euro. Somit beträgt die stille Reserve bei dem Fahrzeug 6.999 Euro und wird erst dann Gewinn erhöhend aufgelöst, wenn der Wagen verkauft wird. 
Durch das Anschaffungskostenprinzip kann es zudem vorkommen, dass z.B. Grundstücke oder Wertpapiere über die Jahre in ihrem Wert steigen, sie in der Bilanz aber nur mit dem Anschaffungswert ausgewiesen werden dürfen. Auch hier lassen sich im Verkaufsfall immer wieder höhere Erlöse erzielen.

Preisschwankungen oder Geldwertveränderungen die auf Grund gesetzlicher Vorschriften nicht berücksichtigt werden dürfen oder Schätzfehler, etwa bei Abschreibungen oder Rückstellungen, können dazu führen, dass stille Rücklagen entstehen. Außerdem entstehen stille Rücklagen, wenn man auf mögliche Zuschreibungen verzichtet oder Passiva überbewertet.

Das kann bei Rückstellungen der Fall, sein, wenn bewusst oder unbewusst zu hohe Werte angesetzt werden. Schätzt ein Unternehmen bei einem Gerichtsverfahren die Höhe möglicher Schadenersatzforderungen z.B. auf 100.000 Euro, und beträgt die Strafe dann tatsächlich 80.000 Euro, entsteht eine stille Reserve von 20.000 Euro, die dem Vermögen erst bei Auflösung und Versteuerung aufgedeckt wird.

Folgen stiller Reserven

Die Folge stiller Reserven ist regelmäßig, dass das Eigenkapital geringer scheint, als es in Wirklichkeit ist. Die Auflösung stiller Reserven kann z.B. durch Gewinnrealisierung oder den Übergang zu einer normalen Bewertung erfolgen. Stille Rücklagen sind durch Außenstehende, wenn überhaupt, nur grob abzuschätzen. Ein guter Hinweis auf bestehende stille Reserven sind z.B. mehrere Erinnerungswerte von 1 Euro in der Bilanz oder hohe Rückstellungsbeträge. Hier kann angenommen werden, dass es stille Reserven gibt, die aber ohne z.B. Gutachten oder andere Expertise lediglich geschätzt werden können.

Stille Rücklagen werden in voller Höhe erst bei einer tatsächlichen Veräußerung sichtbar, weil erst dann der erzielte Verkaufserlös feststeht. Ist er höher als der Buchwert, entsteht ein Veräußerungsgewinn, der zu versteuern ist. Damit verschieben sich Steuerzahlungen oder fallen insgesamt niedriger aus. Denn es ist auch möglich, dass sich stille Reserven nach einiger Zeit von selbst auflösen, wenn z.B. für das Firmenfahrzeug im Beispiel nach 10 Jahren Nutzungsdauer kein Erlös mehr erzielt werden kann oder es verschrottet werden muss.

Auch wenn die Versuchung vorhanden ist, im Betrieb größerem Umfang stille Reserven aufzubauen, sollten Unternehmen dies nicht umsetzen. Denn auf Grund des Wertaufholungsgebots des § 253 Abs. 4 HGB werden Firmen darin eingeschränkt, in erheblichem Umfang stille Reserven verdeckt anzuhäufen. Nicht zuletzt ist es untersagt, durch wissentlich falsche Schätzungen stille Reserven aufzubauen, da dies auch gegen die Prinzipien von Bilanzklarheit und Bilanzwahrheit verstößt und Unternehmen sich dadurch unlautere Steuervorteile verschaffen können, was u.U. sanktioniert werden kann.


Lesen Sie auch "unsichtbares Kapital - Theoretische Darstellung mit Situationsfällen aus der Praxis" >>




letzte Änderung J.E. am 11.04.2023
Autor(en):  Jörgen Erichsen


Autor:in
Herr Jörgen Erichsen
Jörgen Erichsen ist selbstständiger Unternehmensberater. Davor hat er in leitenden Funktionen in Konzernen gearbeitet, u.a. bei Johnson & Johnson und Deutscher Telekom. Er ist Autor von Fachbüchern und -artikeln rund um Rechnungswesen und Controlling. Außerdem ist er als Referent zu diesen Themen für verschiedene Träger tätig. Beim Bundesverband der Bilanzbuchhalter und Controller (BVBC) leitet Jörgen Erichsen den Arbeitskreis Controlling.
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